978-3738621457

1. Kapitel



„VerfluchterMönch!“, murmelte, die gemütlich an den Stamm einer alten Trauerweide gelehntsitzende Gestalt und warf erneut die Angel aus. Sein Blick folgte der im Lichtdes frühen Morgens glänzenden Angelschnur, bis der Köder die Wasseroberfläche des träge dahinziehenden Stromes durchbrachund in den Fluten versank.

Zufriedenaufatmend bewegte er seinen Rücken an dem rauen Stamm der Weide solange hin undher, bis er die optimale Sitzposition gefunden hatte, dann lehnte er den Kopfzurück und blickte hinauf in den Himmel. Wolken, die einen ruhigenSpätsommertag verhießen, zogen gemächlich über ihm dahin. Der vorhergesagteSturm schien heute die Prognosen der Meteorologen Lügen strafen zu wollen.Vielleicht hatte er sich kurzerhand umentschieden und suchte lieber einenanderen Flecken Englands heim?

NathanielsGedanken trifteten, gleich den glänzenden Wellen vor ihm, durch ein Flussbettaus wirren Ideen und Erinnerungen. Wie jeder anständige Junge aus Monks Willow,hatte auch er während seiner Schulzeit, die Sage des verfluchten Mönches auswendiglernen und unzählige Male aufsagen müssen. Trotzdem fiel es ihm in diesemMoment schwer, die Worte wieder zusammenzufügen und ihnen einen Sinn zuverleihen. Seine Schulzeit lag eben doch schon einige Jahre zurück. Mit seinenknapp vierzig Jahren hatte er sich emotional weit von der ehemals unheimlichenSage entfernt.

Ja, alsKinder fürchteten sie die Sage und konnten doch nie genug davon bekommen. Wieoft hatte er seine Mutter abends, halb unter der Bettdecke versteckt, darumgebeten, sie ihm noch einmal zu erzählen.

Einwehmütiger Seufzer entkam ihm. Seine Mutter! Sie war eine unvergleichlichePersönlichkeit gewesen. Hoch aufgeschossen, von edler Statur, das weizenblondeHaar immer elegant zu einem Knoten geschlungen, was ihr seltsamerweise nieeinen strengen Ausdruck verliehen hatte. Von einer unbeschreiblichen Sanftmutund doch beseelt von sprühendem Humor. Er konnte sich sogar an die Lachfältchenerinnern, die ihre grünen Augen immer zu umgeben schienen. Sie waren wohl auchdas Einzige, was er von seiner Mutter geerbt hatte: die grünen Augen.

Er selbstwar zwar ebenfalls sehr groß gewachsen, ganze 1,89 m, jedoch nicht unbedingtvon edler Statur. Sein insgesamt eher als schmal zu bezeichnender Körperbau,wies ihn auf den ersten Blick, als nicht unbedingt sportlich aus. Außer Reitenund Fahrrad fahren, ging er keiner weiteren sportlichen Betätigung nach. Seinvon Kindesbeinen an durch angeborene Tollpatschigkeit geprägter Bewegungsablaufhinderte ihn daran, an den abwechslungsreichen Aktivitäten seinerKlassenkameraden teilzunehmen, ohne mit Hohn und Spott überschüttet zu werden.Einzig sein ebenfalls sportlich äußerst unmotivierter Freund Arthur Atlingtonleistete ihm damals wie heute auf seinen stundenlangen Ausflügen Gesellschaft.

Mit demZeigefinger schob er seine Brille auf der Nase zurecht und warf einenzweifelnden Blick auf seine kostbare, wenn auch bereits reichlich mitgenommeneArmbanduhr. Wo blieb Arthur nur? Er hätte bereits vor einer halben Stunde hierunter der Weide auftauchen sollen. Normalerweise war er die Pünktlichkeit inPerson.

Die alteTrauerweide, nahe dem breiten Fluss, war von jeher ihr geheimer Treffpunktgewesen. Hier kam man zusammen, wenn die Last des kindlichen Alltags wiedereinmal zu groß wurde. Was sich meistens nur auf einen Tadel seitens NathanielsVater bezog, der allzu gerne einen Sohn besessen hätte, den er ohne Schamvorzeigen konnte. Doch dieses Geschenk verweigerten ihm Mutter Natur und derSchoß seiner Ehefrau. Nathaniel blieb das einzige Kind und so musste sich seinehrgeiziger, überaus prachtvoller und in jeder Beziehung vollkommener Vater,mit dem missratenen Sprössling abfinden und das Beste daraus machen. Immerhinblieb dem krampfhaft um Zurückhaltung gegenüber seinem Nachkommen und Erbenbemühten Mann, der immer gleiche Satz: „Wieder einmal der Beste seinesJahrgangs!“, was sich selbstverständlich nur auf Fächer bezog, die Wissen undkeine körperliche Anstrengung voraussetzten.

Ein Knackenriss Nathaniel aus seinen Gedanken. Hastig wandte er den Kopf und stieß promptmit der Schläfe an die raue Rinde der Weide, was dazu führte, dass er sich dieHaut an dieser Stelle aufschürfte. Er verschwendete keinen weiteren Gedanken andiesen minimalen Makel, es kamen jeden Tag neue dazu und andere verblassten undverheilten in derselben Zeit. Man hätte ihn schon in ein künstliches Komaversetzen und auf einem aufblasbaren Bett festschnallen müssen, um zuverhindern, dass er sich auf irgendeine hanebüchene Weise eine Verletzungzuzog.

Dem Knackenfolgten wohlbekannte schlurfende Laute und Nathaniel musste sich nicht mehr dieMühe machen, um den Stamm des Baumes herum, nach dem Verursacher der GeräuscheAusschau zu halten. In gewohnt schleifender Art schlurfte Arthur um den Baumstammherum und ließ sich neben ihm ins Gras plumpsen. Diese Bewegung wurde wie immerbegleitet vom Knacken seiner Knochen, die bereits in diesem Lebensaltermächtige Verschleißerscheinungen aufwiesen.

„Old Monkywar wieder unterwegs.“ Nuschelte er nahezu unverständlich in seinen braunenSpitzbart.

EinenAugenblick wanderte Nathaniels Blick über das knochige Gesicht seines Kameradenaus Jugendtagen. Er kannte jede Unebenheit in diesem absonderlichen Gesicht unddoch schien er immer wieder eine neue Besonderheit zu entdecken. Heute blinkteihm ein unübersehbarer Pickel auf Arthurs Nasenspitze entgegen und schienförmlich danach zu rufen, dass man ihn ausdrücken sollte.

Er wandteseine Aufmerksamkeit wieder dem Fluss zu und sagte: „Ich versuche bereits denganzen Morgen mich an die Sage zu erinnern, aber irgendwie bekomme ich nicht einmalden Vers zusammen, den wir in der Schule lernen mussten.“

Nun war esan Arthur, seinen alten Freund genauer in Augenschein zu nehmen. „Du blutest ander Schläfe.“

„Selbstverständlich,ich bin gegen den Baumstamm geknallt.“

„Ach so.“ DerartigeAussagen konnten ihn nicht mehr erschüttern. Er hatte bereits des Öfterenversucht, sich seinen Freund mit makellosem Äußeren vorzustellen, aberirgendwie tauchte sofort ein blauer Fleck in seiner Fantasie auf, oder es zogensich blutige Striemen über die Haut, wenn er diesen Versuch startete. Sogarheftigste Konzentration führte zu keinem Erfolg versprechenden Ergebnis.

„Die Mär,die Mär, hütet Euch sehr!“, hauchte Arthur in die klare Morgenluft.

„Wie bitte?“,fuhr Nathaniel erstaunt herum und sah seinen Freund fassungslos an.

„Du wolltestes doch wissen? So beginnt der Vers.“

Nathanielkramte in seiner Erinnerung und tatsächlich, kaum dass er die ersten Wortedurch Arthur in sein Gedächtnis zurückgerufen bekam, fanden sich auch dierestlichen Worte, wie durch ein Wunder wieder an. Er kräuselte in angestrengterKonzentration die Stirn und begann den Vers aus seiner Erinnerung abzurufen:

 

„Die Mär, die Mär, hütet Euch sehr!

Dereinst ein Mönch vom rechten Weg abkam.

Schuld auf sich lud, die Sünden begrub, unter Lug und Trug.

Doch kam die Wahrheit ans Licht und der Mönch trat vor ein höheres Gericht.

Er floh vor der weltlichen Strafe, auf dass der Hass ihn nicht traf.

Wählte den Strang als Buße,

erhängte sich an einer Weide und machte ein Ende dem Leid.

Erbaut auf sündigem Grund,

tut bis heute Monks Willow kund:

Wer dem Mönch auf seinen unseligen Wegen,

tut des Nächtens begegnen,

wird nimmermehr Frieden finden,

bis dass er sich vereint unter den Weiden, mit den Gebeinen des Einen,

der all dies verschuldet.

Drum hütet Euch vor Monks Willow,

wenn wandert der Mönch durch die Gassen,

solltet Ihr Heim und Hof nicht verlassen.“

Wie gebannthatte Arthur der melodischen Stimme seines Freundes gelauscht. Sie war das wohlAnsprechendste an Nathaniel. Mit dieser Stimme konnte man jede Person in seinenBann ziehen, da wurde reines Aussehen zur Nebensache. Wobei er Nathanielkeineswegs als durchschnittlich oder gar schlecht aussehend bezeichnet hätte.Ganz im Gegenteil. Das rotbraune Haar floss in natürlichen Locken bis in seinenNacken und kringelte sich dort vorwitzig. Die strahlend grünen Augen wurdenumschattet von langen dunkelbraunen Wimpern. Der Bogen seiner Augenbrauenverhieß einen durchsetzungsfähigen Charakter, ebenso wie das energische, spitzeKinn. Insgesamt schlug Nate eindeutig seinem Vater nach. Von seiner Mutterschien er nur die feingliedrigen Hände und die angeborene Kurzsichtigkeitgeerbt zu haben, die er durch eine modische, randlose Brille in Zaum hielt.Einer Laserbehandlung widersetzte er sich vehement, da er eine geradezuphobische Angst vor Krankenhäusern besaß. Unter anderem!

Kein Wundernach all dem, was er bis zum Tod seines Vaters mitgemacht hatte. Zuerst starbseine Mutter nach einem Autounfall und Monaten im künstlichen Koma, die nichtsdaran ändern konnten, dass sie bereits bei Einlieferung in das Krankenhausgehirntot gewesen war. Dann stürzte sein gramgebeugter Vater im Kummersuff diebreite Steintreppe zum Garten hinunter und brach sich das Genick. Innerhalbweniger Wochen verlor er beide Elternteile und blieb in einem Alter von 15Jahren unter der Vormundschaft seiner äußerst skurrilen Tante Dorothea einsamund verlassen zurück. Nun gut, den letzten Teil der Geschichte hatte erLeichterdings übertrieben dargestellt, denn letztendlich liebte ihn seine Tanteauf eine merkwürdig absurde Weise. Und wenn er ganz ehrlich war, dann standNathaniel zu keiner Sekunde unter Dottys Vormundschaft, er übernahm vomTodestag seines Vaters an die Geschäfte, erledigte neben Schule und späterAusbildung alles, was den Erhalt des Besitzes sicherstellte. Natürlich nichtgänzlich alleine, er beschäftigte Angestellte, die nach seinen Wünschen undBefehlen handelten.

Dottyüberließ ihm diese Bürde allzu gerne, da sie selbst über keinerlei Geschickverfügte. Und das meinte er wörtlich! Denn es waren nicht nur diegeschäftlichen Dinge des Lebens, denen sie sich nicht gewachsen fühlte, eswaren alle Dinge des Lebens. Unter der Führung des 15-jährigen Nathaniel undals Dauergast in seinem Heim verweilte die mittlerweile grau gewordene Dorotheain ihrer unnachahmlich verdrehten Weise unter seinem Dach.

„Ja, so lauteteder Vers“, kam Arthur auf das eigentliche Thema zurück.

Nathanielstarrte weiterhin nachdenklich auf den Fluss. Seine Angelschnur trieb sinnlosauf den Wellen, lockte jedoch keinen noch so kleinen Fisch an.

Was Arthurnicht wunderte. Ein Grinsen schlich sich auf seine für einen Mann zu vollenLippen. Fast liebevoll glitt sein Blick über den neben ihm sitzenden Freund.

„Wo hat manihn denn diesmal gesehen?“, hakte Nathaniel nach, da ihn das Thema wirklichinteressierte. Es war nun mittlerweile die siebte Sichtung des geheimnisvollenMönchs und niemand vermochte zu sagen, wer oder was sich unter der Kutteverbarg. Denn eines stand für ihn fest: Keinesfalls handelte es sich um einenGeist!

Arthur legteden Kopf nach hinten gegen den Stamm der Weide und blickte durch die fast biszum Boden hängenden Äste, mit ihrem herbstlich gelben Laub. Immer wenn ein Windstoßden Vorhang aus zarten Zweigen erfasste, wurde ihm ein Blick in den blauenHimmel gewährt. Vom angedrohten Sturm war keine Spur auszumachen. Zufriedenschloss er die Augen und atmete tief ein. „Es riecht schon nach Herbst, findestdu nicht?“

Ein wenigunwirsch fuhr Nate den Freund an: „Wo?“ Er hasste es, wenn von einemangeschnittenen Thema plötzlich abgelenkt wurde, ohne eine Antwort auf seineFrage erhalten zu haben.

„Vor derMetzgerei.“

„SeltsamerOrt für einen Mönch“, hing Nathaniel seinen Gedanken nach.

„Ich weißnicht, er wurde inzwischen an den unterschiedlichsten Stellen im Ort gesichtet,immer weit nach Mitternacht. Die Metzgerei ist kein schlechterer Ort als jederandere“, hielt Arthur dagegen.

Die grünenAugen wanderten zu seinem Freund ab, der weiterhin mit geschlossenen Augenneben ihm gegen den Stamm lehnte und einfach den Tag genoss. Seltsam, dass sichausgerechnet zwei Menschen derart gut verstanden, die von ihren Charakteren herdoch so grundverschieden waren. Er, der manchmal aufbrausende, tollpatschigeAdelige, der immer bemüht war, sich möglichst selbstsicher zu präsentieren,obwohl Selbstsicherheit nun wahrlich nicht zu seinen Stärken zählte. Und dort,Arthur Adlington, die Selbstsicherheit in Person, der alles in stoischer Ruheauf sich zukommen ließ, nur um dann mit absoluter Präzision den richtigen Wegzu wählen, ohne dabei in irgendeiner Form anzuecken. Ganz im Gegensatz zu ihm,der es immer irgendwie bewerkstelligte im falschen Moment das Falsche zu sagenund es dann durch eine linkische Bewegung und ein darauf folgendes Missgeschickzu untermalen.

Freundeeben, vereint in ihrer Unvereinbarkeit, ging es ihm durch den Kopf. Lächelndwidmete er sich wieder seinem Studium der Wolken, die er nun immer öfter durchden Weidenvorhang sehen konnte. Der Wind nahm an Intensität stetig zu und auchdie Wolken verdichteten sich mittlerweile.

Vorsorglichzog er sich die karierte Tweedmütze etwas tiefer in die Stirn. Auch so eineEigenart, die ihn von seinem Freund unterschied. Er hatte eine Vorliebe fürKopfbedeckungen jeglicher Form, während Arthur nur im äußersten Notfall etwasauf seinem Kopf duldete. Auch kleidungstechnisch trennten sie Weltenvoneinander. Er trug nur vorzügliche maßgeschneiderte Kleidung aus bestenStoffen am Leib, die jedoch niemals dem derzeitigen Modetrend Folge leistete,während Arthur sich stets locker nach der Mode des Jahres kleidete, dabei allerdingsnie allzu viel Wert auf die Qualität der Stoffe legte. Ohne es selbst zumerken, zog ein breites Lächeln über sein Gesicht. Verrückt, wieunterschiedlich man sein konnte, und gab trotzdem das perfekte Gegenstück fürden anderen ab.

„Kannst dudich noch an die Sage erinnern?“ Arthur kehrte unvermittelt zum eigentlichenThema ihrer Unterhaltung zurück.

Nachdenklichschüttelte Nathaniel den Kopf. „Nein, das ist zu lange her. Aber es befindensich mit Sicherheit Unterlagen dazu in meiner Bibliothek. Und wenn wir dortnicht fündig werden, kann uns Cameron bestimmt die passende Lektüre besorgen.“

„Wäre nettden alten Wymark mal wieder zu besuchen. Sein Laden platzt bestimmt schon ausallen Nähten“, hing Arthur einer Erinnerung nach, die eigentlich erst vier Tagealt war. Denn vor vier Tagen betrat er zum letzten Mal den Laden von CameronWymark, dem Buchhändler von Monks Willow.

Wie unterSchmerz verzog sich das Gesicht Nathaniels. „Heute auf gar keinen Fall. TanteDotty hielt es für angebracht, die halbe Ortschaft zu uns einzuladen, um überdie Vorfälle zu beratschlagen. Ihrer Meinung nach muss unbedingt etwas gegenden wandelnden Mönch unternommen werden. Heute Nachmittag zum Tee wirst dukeinen aus dem Ort mehr im Ort selbst antreffen, die tummeln sich dann alle inmeinem Haus.“

In seinem Haus, welch verniedlichende Umschreibung für das größteAnwesen weit und breit. Arthur konnte sich nicht erinnern jemals in einemGebäude gewesen zu sein, das weitläufiger, hölzerner oder gar beeindruckender gewesenwäre. Hölzern nur in Bezug auf die Einrichtung zu sehen, denn es gab wohlkeinen einzigen Raum, der nicht bis unter die Decke mit Regalen, herrlichenWandtäfelungen oder sonstigen Einrichtungsgegenständen aus Holz bestückt war.Waren die Rahmen der kostbaren Gemälde nicht auch aus Holz?

„Dass lasseich mir nicht entgehen! Tante Dotty wird zur Höchstform auflaufen und wiegewohnt am Ende auch noch den letzten Krümmel von der Kuchenplatte futtern“,lud sich Arthur selbst zu diesem Vergnügen ein. Seit er denken konnte, ging erin Nathaniels Haus ein und aus, wie es ihm gerade beliebte. Er verfügte sogarüber ein eigenes Zimmer, das er jederzeit nutzen konnte. Es bedurfte keinerextra ausgesprochenen Einladung, um ihn an dem Teestündchen teilhaben zu lassen.

„Fünf Uhr“,bestätigte Nathaniel.

Gab es einenanderen Tee, als den Fünfuhrtee? Arthur musste ein Schmunzeln unterdrücken. Beider Erziehung blieb seinem Freundwohl gar nichts anderes übrig, als den urenglischen Sitten und Gebräuchen Folgezu leisten.

Der Vorhangaus Weidenästen teilte sich und ein runder Kopf schob sich in das Blickfeld derFreunde. Der rotgesichtige Mann grunzte freundlich: „Dachte ich mir’s doch,dass ich Eure Lordschaft hier antreffen würde. Hab die Stimmen gehört. Und wer,außer Eurer Lordschaft, könnte es sich leisten, schon um diese Zeit angelnd amFluss zu sitzen?“

Man hättedie Worte als despektierlich auffassen können, zumal die Bezeichnung„Lordschaft“ absolut unzutreffend war, aber Nathaniel hatte es aufgegeben, aufseinen korrekten Titel hinzuweisen. Die gesamte Einwohnerschaft von MonksWillow betitelte ihn mit „Eure Lordschaft“. Und es hätte auch ein wenig zu vielZeit in Anspruch genommen, ihn jedes Mal mit: Duke of Devinshire Earl of Montague,anzusprechen.

„Und was treibtSie um diese Zeit am Fluss um, Mr. Spencer?“, ging Nathaniel der Höflichkeithalber auf den Mann mit dem aufgedunsenen Gesicht, ein. Obwohl er sich bereitsin diesem Moment dessen bewusst war, dass der Spott nicht lange auf sich wartenlassen würde. Es schien zu Lewis Spencers Lieblingsbeschäftigungen zu gehören,über alles und jeden, einen dummen Witz zu reißen.

Augenblicklichverzog sich das runde Mondgesicht zu einer grienenden Maske und prustete dienächste Unverschämtheit aus seinem, mit einer geschwollenen Zunge ausgestattetenMund. „Dachte der Mönch, hat sich vielleicht ein zweites Mal an einer Weideerhängt und diese fiel mir als Erste ein. Wollt Euer Hochwohlgeboren davorbewahren, so kurzsichtig, wie Sie ja nun einmal sind, stundenlange unter einerbaumelnden Leiche zu sitzen. Reicht ja schon, wenn Eure Lordschaft, wie immererfolglos angelt.“

Die Worteentlockten Arthur ein wissendes Lächeln. Sein Blick wanderte automatisch dieAngelschnur entlang, zu dem im Wasser abgetauchten Ende.

Wie immer inGegenwart Lewis Spencers musste Nathaniel zuerst all seine Würde aufbieten, umdann die passende Erwiderung von sich zu geben. Er erhob sich, wischte seineKleidung sorgfältig mit den Händen ab und wandte sich dann mit einem leichtüberheblichen Lächeln an den Bauern: „Keine Sorge, Mr. Spencer, es gehörtejahrhundertelang zu den Aufgaben eines Duke of Devinshire Earl of Montague,seine Leibeigenen und Bediensteten zu befehligen. Dazu benötigt man auch einscharfes Auge, um Diebstahl und Wilderei vorzubeugen. Ich hätte also im Zugemeiner Ausbildung zum Lehnsherrn niemals eine über mir baumelnde Leicheübersehen, selbst wenn sie nicht einen derart feisten Körperbau wie den Ihrenaufgewiesen hätte.“

Derkeineswegs versteckte Hinweis auf Wilderei, die Spencer in reinster Passionbetrieb, versetzte dem dreisten Landjunker gerade eben den Stoß, dessen erbedurfte, um sich auf seine dezenteWeise zurückzuziehen. „Hab noch ne Menge zu tun. Wollt nur gesagt haben, dasssich so eine Angelrute als wesentlich wirksamer erweist, wenn man auch amanderen Ende mit Hirn zu Werke geht.“ Sprachs und warf dem nunmehr stehendenund ihn weit überragenden Duke eine Handvoll Regenwürmer vor die Füße, ehe ersich schleunigst aus dem Staub machte.

So sehr sichArthur auch anstrengte, er konnte das Lachen nicht allzu lange zurückhalten,dann brach es sich Bahn und erfüllte das Weidenzelt. Als er sich soweitberuhigt hatte, dass er Worte formen und auch aussprechen konnte, meinte er anseinen indigniert dreinblickenden Freund gewandt: „Du musst dich nicht wundern,wenn dir mit deiner Art zu angeln Spott zu Teil wird.“

VonSpencers Gegenwart befreit sackte Nathaniel wieder in eine bequemere Haltungzurück und begann die Angelschnur aufzurollen. Als sich das letzte Stück Schnuraus den Fluten erhob, wurde ersichtlich, worauf sowohl Lewis Spencer, wie auchArthur Adlington angespielt hatten. Er pflegte, ohne Köder zu angeln. Natürlichwar er sich des sicheren Misserfolges bewusst, aber er brachte es eh nichtübers Herz einen gefangenen Fisch kaltblütig umzubringen, oder ihm auch nur denHaken aus dem Maul zu ziehen. Wozu also einen Haken ans Ende der Schnur hängenund womöglich auch noch mit einem hilflos zappelnden Wurm versehen, derentweder ersäuft wurde, oder aber von einem Fisch gefressen, der dann wenig späterebenfalls ermordet wurde?



Copyright © by Sylvia Seyboth

Auch auszugsweise Veröffentlichungen bedürfen der Einwilligung der Autorin.


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