Eine Liebe, die stotternd beginnt
1. Kapitel
Sonne, Sommer, Wind im Haar. Alles könnte so perfekt sein. War es aber nicht. Nun gut, die Sonne schien ihr weiterhin angenehm warm ins Gesicht, der Sommer hatte unzweifelhaft seit einigen Tagen in Bayern Einzug gehalten und auch der Wind fuhr unablässig spielerisch durch ihr langes, kastanienbraunes Haar und doch blieb der üble Nachgeschmack, der Streitigkeiten unter Freunden allgemeinhin so nach sich zog.
Dabei hatte alles so gut angefangen. Fünf Freunde, gemeinsam getrieben von dem unstillbaren Wunsch aus ihrem Leben mehr zu machen als täglich aufzustehen, einer langweiligen Arbeit nachzugehen und ihren Träumen hinterher zu jagen. Fünf kreative Menschen auf der Suche nach einer Möglichkeit eigene Wege zu gehen und dabei ihrer unbändigen Kreativität Ausdruck zu verleihen. Und sie hatten tatsächlich den Mut aufgebracht, sich von allem loszusagen und einen Neubeginn zu wagen.
Begonnen hatte alles damit, das Samantha durch einen Zufall während eines Wochenendausflugs auf ein "Zu verkaufen" Schild gestoßen war, das vor einem verheißungsvollen alten Gebäude angebracht war. Es gehörte ein kleines Seegrundstück zu dem verwinkelten Gebäude, das aus rotem Backstein und einer dunklen Holzverkleidung erbaut war. Ein Erker zierte die rechte Seite des Gebäudes. Ein in den letzten Jahren offensichtlich vernachlässigter Garten zog sich rund um das Gebäude.
Samanthas erster Eindruck war höchst positiv. Ein Haus, das genug Raum bot, um fünf Menschen zu beherbergen und ihnen trotzdem noch die Möglichkeit ließ, sich auch aus dem Weg gehen zu können. Ein herrlich gelegenes Grundstück mit Anschluss zum Starnberger See und trotz ländlicher Lage war die nächste Großstadt nicht aus der Welt. Gelegentlichen Ausflügen nach München stünde also weiterhin nichts im Weg.
Samanthas zweiter, wesentlich weniger positiver Eindruck machte sich an eben diesen Punkten fest. Ein derart großes Haus, das noch dazu direkt am Starnberger See lag, einem Treffpunkt der „Schönen und Reichen“, konnte nur unbezahlbar teuer sein. Denn die häufig nicht sehr Schönen, dafür umso Reicheren vereinnahmten mittlerweile das gesamte landschaftlich attraktive Umfeld der Hauptstadt Bayerns. München war zu einem Anziehungspunkt der Großkotze und Promis geworden, dem normalen Volk wurde inzwischen die Lebensgrundlage mehr oder weniger entzogen. Die Mieten stiegen ins Unermessliche, Wohneigentum konnte sich der Normalverdiener überhaupt nicht mehr leisten und in angesagte Klubs kam man nur noch rein, wenn man mit sexuellen Reizen aufwarten oder ein bekanntes Gesicht vorweisen konnte. Eine traurige Entwicklung, die das früher so unbeschwerte Leben in dieser wunderschönen Stadt immer unerträglicher machte.
Ein weiterer Grund, warum sich die fünf Freunde nach Abstand zu ihrem bisherigen Leben sehnten und Samantha war die Letzte, die allzu schnell aufgab. Sie tippte die auf dem „Zu verkaufen“ Schild angegebene Telefonnummer in ihr Handy und lauschte dem Freizeichen, bis sich eine geschäftsmäßige Stimme am anderen Ende meldete.
Es sollte sich herausstellen, dass sich der Versuch lohnen sollte. Der Makler wollte zuerst keinen Preis nennen, er fragte die Umstände ab unter denen Samantha das Haus gefunden hatte, wollte mehr über die Lebensumstände der möglichen zukünftigen Käufer wissen und reagierte erstaunlich begeistert als Samantha nur widerwillig damit herausrückte, dass es sich sozusagen um eine Künstlergruppe handelte, die beabsichtigte aus dem Haus nicht nur einen Wohnraum zu machen, sondern auch ein großes Gemeinschaftsatelier. Er schlug ihr ein Treffen mit den bisherigen Besitzern vor, die laut seiner Aussage eine ganz besondere Vorstellung von den zukünftigen Besitzern ihres Hauses im Auge hatten. Samantha willigte ein und machte einen Termin aus.
Perfekter hätte die folgende Zusammenkunft nicht ablaufen können. Die fünf Freunde waren im Vorfeld übereingekommen, dass sie alle Mühen auf sich nehmen würden, wenn der Kaufpreis auch nur annähernd erschwinglich war. Und wie durch ein Wunder kam ihnen das alte Ehepaar, dem das Grundstück mit dem Haus gehörte erstaunlich weit entgegen. Sie hatten keine Nachkommen oder Verwandte, denen sie das Haus einmal vermachen konnten. Für sie selbst war es inzwischen zu anstrengend geworden Haus und Garten zu bewirtschaften, also suchten sie einen Käufer. Aber sie stellten besondere Ansprüche an den möglichen neuen Besitzer. Gerade dem Zuzug weiterer arroganter Promis wollten sie keinesfalls Vorschub leisten, also suchten sie nach Menschen mit der Liebe zu dem Gebäude und dem dazugehörigen Grundstück. Es schien ihnen besondere Freude zu bereiten, dass es sich bei dem wild zusammengewürfelten Haufen gerade um Künstler handelte, daher gingen sie mit dem Kaufpreis sogar noch ein gutes Stück runter.
Alles war wie in einem perfekten Traum. Geradezu spielerisch überwanden die Freunde alle Schwierigkeiten. Sie kratzten all ihr Erspartes zusammen, nahmen noch einen kleinen Kredit zusätzlich auf und stürzten sich in ihr neues, abenteuerliches Leben. Bis auf Henry und Helen gaben alle ihre bisherigen Jobs auf und widmeten sich vollständig ihrer künstlerischen Betätigung.
Henry fand den Gedanken sich nur noch seiner Kunst, der Bildhauerei zu widmen verlockend, war jedoch ein sehr praktisch denkender Mensch. Er wollte keinesfalls sein gutes Gehalt aufgeben und riskieren nicht genug zum Leben mit seiner Kunst zu verdienen. Helen hingegen hing insgeheim an ihrer Arbeit als Bibliothekarin und zog es vor nur noch halbtags zu arbeiten, um die restliche Zeit mit ihrer Kunst, der freien Stickerei zu verbringen.
Da waren Sandra, Tommy und Samantha aus anderem Holz geschnitzt. Für sie gab es keine Kompromisse. Sie gaben ihre Jobs von einem auf den anderen Tag auf und stürzten sich auf ihr künstlerisches Fortkommen. Und sie kamen fort. Tommy besonders gut. Bisher hatte er als Komparse für mehrere kleinere TV-Produktionen gearbeitet. An größere Projekte hatte er sich nie herangewagt, da diese zeitlich mit seiner Arbeitszeit als Beamter kollidiert wären. Nachdem er dieses Hindernis aus dem Weg geräumt hatte, stellte sich schon nach seiner ersten größeren Rolle heraus, dass er erstaunlich gut beim Publikum ankam, und bekam sofort eine Hauptrolle angeboten.
Nach kleineren Anlaufschwierigkeiten folgte Sandra dem Beispiel ihres Kameraden beinahe spielerisch. Ihre Gemälde, die häufig kombiniert mit Nahrungsmitteln daherkamen, fanden reißenden Absatz. Auf Nudelölbildnisse und Reisacryllandschaften schien die Welt nur gewartet zu haben.
Leider gestaltete sich Samanthas künstlerischer Werdegang etwas schwieriger. Als Autorin kämpfte sie jeden Tag um Anerkennung. Von ihren schriftstellerischen Ergüssen vollkommen überzeugt wandte sie sich an diverse Verlage. Doch diese schienen weit weniger begeistert von dem, was aus ihrer Computerfeder floss. Lange Monate erlitt sie einen Rückschlag nach dem Nächsten und war nahe dran wieder eine feste Arbeit zu ergreifen, um etwas zu den laufenden Kosten in der Gemeinschaft beitragen zu können. Doch Helen, Tommy und Sandra hielten sie immer wieder davon ab. Die Einkünfte der anderen reichten, um sie mit durchzuschleppen und sie waren willens dies auf sich zu nehmen. Nur Henry nörgelte ungeniert an der Situation herum. Erst als sich auch bei ihm der Erfolg einstellte, sich seine Skulpturen gut verkauften und sogar der Pragmatiker es wagte seinen Job aufzugeben, um sich nunmehr gänzlich seiner Kunst zu widmen, begann auch er Samantha gut zuzureden und Mut zu machen.
Als hätte nur noch dieses letzte Quäntchen Zuspruch gefehlt fand danach der ersehnte Erfolg auch zu Samantha. Ihr erster Roman wurde angenommen und sogar leidlich gut bezahlt. Verkauft wurde das Buch erstaunlich gut und ihr Verlag machte ihr den Vorschlag auch einen weiteren Roman wohlwollend prüfen zu wollen.
Von da an war sie nicht mehr nur Nutznießer dieser außergewöhnlichen Wohnsituation, sonder ein festes, bezahlendes Mitglied. Endlich fühlte sie sich so richtig angekommen. Doch dann begannen die Schwierigkeiten erst richtig.
Mit den Monaten in der wild zusammengewürfelten Wohngemeinschaft stellte sich immer mehr heraus, dass es keine einfache Angelegenheit war, wenn fünf derart unterschiedliche Charaktere auf so engem Raum zusammenlebten. Es kam immer häufiger zu Unstimmigkeiten, besonders zwischen Henry, Helen und Tommy. Wobei Henry immer der auslösende Faktor war. Er störte sich an Helens Lebensweise, an ihrer Kleidung, an ihrem Aussehen, an ihren Witzen, eigentlich an allem, was Helen als Mensch ausmachte. Tommy hingegen zog seinen Zorn in Hinsicht auf seine sexuellen Neigungen auf sich. Homosexualität war Henry in jeder Beziehung ein Dorn im Auge. Das ausgerechnet unter seinem Dach ein Schwuler lebte machte ihm schwer zu schaffen. Und da war schon das nächste Problem, Henry betrachtete sich selbst als Leitwolf, heulte jedoch ganz umsonst den Mond an, denn keiner wollte ihm diesen Status zugestehen. Sie hatten genug von Chefs und Untergebenen, hier sollten nur gleichgestellte Personen leben.
Samantha hatte ganz im Besonderen ihre Probleme mit Henry. Es war ihr nicht entgangen, dass er nicht nur freundschaftliches Interesse an ihr zeigte. Seltsamerweise hatten diese offenen Bekundungen seiner Zuneigung erst nach dem Zusammenzug begonnen. Zuvor war er ihr niemals nahe getreten, das hätte sie sich auch verbeten. Er entsprach wahrlich nicht ihrer Vorstellung von einem Mann fürs Leben. Mit seinen 1,70 m war er ein paar Zentimeter kleiner als sie, dafür trug er mit Sicherheit um die 50 Kilo mehr mit sich herum. Sein lichter werdendes Haar, das rundliche Gesicht, aber vor allem seine manchmal geradezu haarsträubenden Ansichten sorgten dafür, dass er in Samanthas Augen keinerlei Reiz auf sie ausübte.
All dies hatte am Vorabend wieder einmal zu Unstimmigkeiten geführt. Zuerst hatte Henry sich sehr herablassend über Helens Kleidungsstil geäußert, was dazu führte, dass Tommy der Freundin beisprang und in der Folge zu noch bösartigeren Äußerungen in Hinsicht auf Tommys sexuelle Gesinnung führte. Und wieder einmal endete ein bis dahin harmonischer Abend damit, dass sich die Freunde als geschlossene Front gegen Henry formierten. In die Enge getrieben hatte er zwar einen Rückzieher gemacht, aus seinem Frust heraus steigerte sich jedoch sein Alkoholkonsum und somit seine anzüglichen Sprüche Samantha gegenüber.
Das Ende vom Lied, alle zogen sich leicht angesäuert auf ihre Zimmer zurück.
Heute, einen Tag danach, saß Samantha allein auf der dem Seeufer zugewandten Terrasse, vor sich ihren aufgeklappten „Toshie“, neben sich auf dem großen, stabilen Gartentisch unzählige Ausdrucke, die durch einen Stein beschwert wurden. Die restliche Gruppe ging heute außer Haus ihrer künstlerischen Vermarktung auf einer Ausstellung in München nach. Eigentlich ein Glücksfall für Samantha, denn nun konnte sie sich endlich einmal ungestört ihrer Schreiberei widmen. Doch irgendwie schien ihr die gewohnte ständige Unruhe in ihrer Nähe zu fehlen, ihre Kreativität tendierte gegen null.
Bei aller Liebe zum Schreiben konnte es vorkommen, dass sie unfertiges Gestammel in die Tastatur prügelte und dann Stunden später beschloss den gesamten Nonsens in den virtuellen „Papierkorb“ zu packen, wo er hingehörte. Heute war so ein Tag.
Der Versuch sich eine Weile einfach treiben zu lassen, den Geräuschen der Umgebung zu lauschen und dann wieder zu ihrem Tagewerk zurückzukehren schien bereits um die Mittagszeit gescheitert zu sein. Ganze vier Sätze prangten unter Kapitel 5 und sogar die schienen bei einer zweiten, eingehenderen Prüfung wenig spritzig und überzeugend. Und Samantha hasste es halbe Sachen zu machen, jeder Satz musste sitzen, jede Poente sollte auf den Punkt greifen, die Stimmung musste den zukünftigen Leser durchfluten und für sich einnehmen. Die heutige Spitzenleistung von vier Sätzen war geradezu erschütternd, zumal sie mit Sicherheit bald wieder durch einen kurzen Klick der Entertaste gelöscht würden.
Es war einer dieser Tage, an denen sie stundenlang vor ihrem „Toshie“ saß, die Tastatur anstarrte und das Gefühl hatte ihr Kopf wäre wie leer gefegt. Die Worte fanden ihren Weg vom Gehirn nicht bis hinunter zur Tastatur. Jede Kleinigkeit lenkte ihre Aufmerksamkeit ab und erforderte mehr alltägliche Gedanken, als sie Ideen für ihr Buch hatte.
Ihre Begeisterung für Literatur begann in frühester Kindheit. Schon mit acht Jahren las sie die dicksten Kinderbücher mit Leichtigkeit an einem Tag. Mit dem Alter wurde die literarische Kost schwerer, jedoch keineswegs dünner. Ihre ersten erfolgreichen, eigenen Schritte auf Papier machte sie bereits mit elf Jahren. Sogar auf richtigem Papier, in einem Schulheft. Der neue Lehrer wollte eine frei erfundene Geschichte von wenigstens 3 A4 Seiten. Samantha lieferte einen Tag später zum größten Erstaunen ihres Lehrers 16 eng beschriebene Seiten ab, die prompt mit einer 1+ belohnt wurden. Über den Inhalt ließ er sich damals lieber nicht aus. Die Seiten trieften vor Blut und Herzschmerz.
Sam hatte ihr ureigenstes Herzblut in die Geschichte hineingelegt. Und um beim Blut zu bleiben, sie hatte es geleckt. Von da an war der Traum einmal eine gefeierte Schriftstellerin zu werden wie ein winzigkleines Samenkorn in ihr Gehirn gepflanzt und versuchte all die Jahre immer aufs Neue zu keimen. Sie fing fünf oder sechs Projekte gleichzeitig an, stellte jedoch nie eines davon fertig. 200 handschriftliche Seiten waren keine Seltenheit, doch dann woben ihre ideenreichen Gedanken neue Fäden und der zündende Stoff für das nächste Buch war geboren. Nur, um seinen Vorgängern nach einiger Zeit unfertig in einen Ordner zu folgen und in einer Schublade zu verschwinden.
Erst mit 23 Jahren gelang es ihr, einen Roman vom ersten Buchstaben bis zum letzten Punkt fertigzustellen. Inhaltlich war sie beim Blut geblieben, er handelte von einem Vampir. Doch ihre Vorgehensweise hatte sich bis dahin bereits drastisch verändert. Keine handschriftlichen Seiten mehr, der erste Computer hatte nicht unmaßgeblich zur Fertigstellung des Werkes beigetragen und schließlich auch den Befehl an den Drucker weitergeleitet die 180 Seiten auszudrucken.
Mit vor Stolz geschwellter Brust wurde der Erstling an verschiedene, namhafte Verlage und Verlagsagenturen geschickt und in der engeren Verwandtschaft verteilt, um sich einer freundschaftlichen Kritik zu stellen. Das Ergebnis war mehr als deprimierend. Nur wenige Verlage antworteten überhaupt, die Absagen waren dafür niederschmetternd gleichlautend. Fast konnte es einem so vorkommen, als hätten alle Verlage den gleichen Vordruck für das Schlichte: „Nein, danke!“
Interesse bekundete eine einzige Verlagsagentur, man solle doch mal anrufen. Das ließ sich die temperamentvolle Samantha natürlich nicht zweimal sagen. Die Chemie zwischen ihr und der Verlagsagentin schien auf Anhieb zu harmonieren. Vorsichtig wies die Dame daraufhin, dass es natürlich Verschiedenes gäbe, was sie eindeutig noch verbessern könnte und dass ihr Schreibstil noch nicht besonders ausgefeilt wäre. Beschreibungen kämen zu kurz, Personen wären nur unzureichend dargestellt, Szenen könnten bei einer guten Überarbeitung viel mehr hergeben und dann war da noch das Ende. Das gefiel ihr persönlich nun überhaupt nicht. Die Hauptdarstellerin starb, das war bei den Lesern angeblich gar nicht beliebt.
Mit Kritik konnte Sam leben, sie versprach, das Manuskript noch einmal zu überarbeiten und es dann erneut anzubieten. Auf ihr unpopuläres Ende bestand sie jedoch. Wo blieb denn da die schriftstellerische Freiheit, wenn ein Ende der Mehrzahl der Leser gefallen musste?
Ein Monat und viele Arbeitsstunden später, angeregt durch die treffenden Kritiken der Verwandtschaft, lag ein nunmehr 250 Seiten langes Manuskript bei der Verlagsagentin. Sie schien überaus zufrieden mit den Fortschritten, die das zukünftige Buch gemacht hatte, und erklärte sich bereit es den Verlagen anzubieten. Nach drei Absagen würde sie das Manuskript jedoch zurücksenden und keine weiteren Versuche starten, teilte sie Samantha gnadenlos mit.
Es kam, wie es kommen musste, das Manuskript fand zielstrebig seinen Weg zurück zu seiner Schreiberin. Demoralisiert verschwand es in der gleichen Schublade wie all die unvollendeten Werke zuvor.
Erst Jahre später, neun um genau zu sein, konnte Samantha sich aufraffen, noch einmal einen Blick in das Manuskript zu werfen. Und zu ihrer großen Überraschung war sie nach wie vor von dem was sie geleistet hatte überzeugt. Doch diesmal wollte sie planvoller vorgehen. Sie kaufte sich ein Buch mit Ratschlägen für Erstautoren und hielt sich an dessen Vorgaben.
Und siehe da, das Manuskript wurde angenommen und in einer kleinen Auflage veröffentlicht. Nicht gerade ein Bestseller, aber es lag in Buchhandlungen und wurde über diverse Versandhäuser angeboten. Für Sam der Höhepunkt ihres bisherigen Lebens.
Zaghaft fragte sie nach seinem Erscheinen in einer Buchhandlung probeweise nach ihrem Werk und durfte voller Begeisterung feststellen, dass es im Angebot des Geschäfts vorhanden war. Der Anblick ihres Werkes im Taschenbuchformat zu einem Stapel erhöht, erfüllte sie mit Stolz und Ehrgeiz. Sie wollte noch viel mehr erreichen. Es sollte nicht bei diesem einen Buch bleiben, und wenn sie richtig darüber nachdachte, durfte es auch nicht bei Taschenbüchern bleiben, es sollte eine Hardcoverausgabe werden. Richtige, gebundene Bücher, denen der Charme der vergangenen Zeiten anhaftete und die noch das Gefühl von Lesen vermittelten. Schwer sollte es in der Hand liegen, den unverwechselbaren Duft von frisch bedrucktem Papier verströmen und gekrönt werden von einer anziehenden Umschlagillustration.
In Samanthas Verständnis für diesen Bereich gab es nichts Schlimmeres als die Vorstellung ihre Bücher würden über Internet gelesen, ohne das griffige Gefühl von Papier in den Händen, ohne das Rascheln der Blätter beim Umblättern der Seiten, dem Duft des holzhaltigen Papiers. Wie ihre Freunde schon des Öfteren festgestellt hatten, sie war hoffnungslos altmodisch in ihren Ansichten über gewisse Dinge.
Dazu gehörte unter anderem auch die Auffassung, dass immer noch der Mann dafür zuständig war, den ersten Schritt zu machen, wenn er die Bekanntschaft einer Frau suchte. Anstandsregeln und das Festhalten an althergebrachten Ansichten zollte Sam hohes Ansehen. Was ihr zumeist den Spott der Freunde einbrachte.
In mancherlei Hinsicht bewunderten die Kameraden sie jedoch für ihre Betrachtungsweise der Dinge. Ihr Kampfgeist war eine Eigenschaft, die den meisten von ihren Freunden fehlte, erst durch das Ständige auf sie Einreden hatten sie den Mut gefasst, einen Traum in die Tat umzusetzen, von dem sie jahrelang nur geredet hatten.
Eines musste Samantha sich eingestehen, sie waren ein seltsamer, wild zusammengewürfelter Haufen der unterschiedlichsten Persönlichkeiten. Und ohne sich selbst allzu sehr loben zu wollen, die meiste Zeit hatte sie den Eindruck, die Normalste geblieben zu sein.
Hermann, genannt Henry, strotzte vor verschrobenen Ansichten und Marotten. Als Bildhauer machte er jedoch eine ausgesprochen gute Figur. In seinem Fall waren die meisten Werke sogar als das zu identifizieren, was sie darstellen sollten. Kein postmoderner Krimskrams, der nur dem pseudoverständigen Kunstkenner ein anerkennendes Verziehen der, im Grunde nach dem „wozu“ und „warum“ fragenden, Gesichtsmuskulatur entlockte.
Tommy, der eigentlich Thomas hieß, blond, 185 cm Körperlänge, muskulös, mit unglaublich blauen Augen. Ein wahres Prachtexemplar der männlichen Gattung. Für die männermordende Sandra jedoch absolut unantastbar. Homosexualität und Sandra waren zwei völlig konträre Erscheinungsformen und somit unvereinbar. Der strohblonde Tommy war der Prototyp des durchtrainierten Schönlings. Das Erlernen seines Textes trieb er soweit, dass er in den unmöglichsten Situationen eine seiner Szenen in das wirkliche Leben einfließen ließ und damit immer aufs Neue sein Umfeld in Erstaunen versetzte und manch zweifelnden Blick erntete.
Helen, klein, stämmig gebaut, grau meliertes Haar, mit einer Vorliebe zu Sweatshirts und Stretchhosen, begeisterte durch ihre „Freie Stickerei“ und hatte des Öfteren Probleme den Zeitplan ihrer Abgabetermine einzuhalten. Sie neigte ebenso wie ihre beste Freundin Samantha dazu ständig an mehreren Dingen gleichzeitig zu arbeiten und dabei den zeitlichen Faden in mehrere Richtungen laufen zu lassen, nur um am Ende völlig aufgelöst mit mehreren Sticknadeln gleichzeitig sämtliche Fadenenden der fast abgelaufenen Uhr zu vernähen und ihre eingegangenen Verpflichtungen gerade eben noch so zu erfüllen.
Helen sah sich auf der von ihr aufgestellten Leinwand des Lebens, in ihrem eigenhändig produzierten Film unablässig in der Rolle der Chefin und Führungskraft. Der Ausdruck „Despot“ war nicht unbedingt übertrieben in Bezug auf sie. Ohne dass man sie dazu aufforderte, übernahm sie die Anleitung für fast alles, was mit ihrem Zusammenleben zu tun hatte. Der Haushalt, die Zeiteinteilung, die gemeinsamen Unternehmungen, alles wollte sie vorgeben. Ja, sogar bei der Einrichtung hatte sie versucht, allem ihren ureigensten IKEA-Stempel aufzudrücken. Was den anderen dann aber doch zu weit gegangen war. Nicht jeder stellte sich die schwedischen Notholz-Regale als Wohnraumgestaltung vor. Daher wurde einstimmig entschieden, dass die jeweils zwei Zimmer die jedem von ihnen zustanden, nach dem eigenen Geschmack eingerichtet werden konnten. Einzig das gemeinsame Wohnzimmer, die zwei Badezimmer und die Küche wurden am Ende nach einer hartnäckig geführten Debatte und einer demokratisch ablaufenden Abstimmung gemeinsam gestaltet.
Vielleicht lag es daran, dass Helen mit ihren 43 Jahren die Älteste der Truppe war und sich mit ihrem schon angegrauten Haar in eine Art Mutterrolle versetzt fühlte.
Die manchmal recht schusselige Sandra mit dem nicht zu unterschätzenden Hang zum vollkommenen Narzissmus konnte die Nerven der Mitbewohner durch ihre allzu leichte Begeisterungsfähigkeit für Männer auf eine harte Probe stellen. Ansonsten trug sie durch ihre ständige Unpünktlichkeit und hoffnungslose Ordnungsliebe dazu bei, dass es niemals langweilig wurde. Kein Staubkorn entging ihrem aufmerksamen Auge, unter jedes achtlos abgestellte Trinkglas wurde eiligst ein Untersetzer platziert und notfalls auch hinter dem geistig abwesenden Trinker hergetragen um aufs Neue mit einem nicht zu übersehenden, gestenreichen Hinweis wieder unter dem Glas angebracht zu werden.
Wenn sie so über diese wilde Mischung nachdachte, dann breitete sich unbewusst ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus.
Resignierend klappte sie den Laptop zu und stand von der bequemen Holzbank auf. Genüsslich streckte sie ihre steifen Glieder von sich.
Eigentlich hätte sie mit ihrem derzeitigen Leben zufrieden sein müssen, doch wenn sie einen Blick in die Vergangenheit wagte, übernahm ein Gefühl von Schwermut die Kontrolle über ihre Emotionen.
Sehr lange war sie auf der Suche nach ihrem Platz im Leben gewesen, eckte bei so mancher Gelegenheit an und wurde allzu oft von Menschen, an denen ihr Herz hing, enttäuscht. Trotzdem hatte sie sich zu einer verhältnismäßig normalen Person gemausert, die ihre Grenzen kannte und diese nicht mehr leichtfertig, wie in der Vergangenheit überschritt. Es gab Momente, da keimte der alte Geist von Rebellion in ihr auf und sie versuchte aus dem vorgegebenen Alltag auszubrechen, doch das beschränkte sich mittlerweile auf ihren teilweisen Stilbruch, was Kleidung und Schmuck betraf. Es lebten die 80ger Jahre auf, wenn sie ihre Cowboystiefel, die engen Jeans, karierte Hemden und Indianerschmuck hervorholte und damit einen sehr bewussten Rückschritt in der Mode machte. An solchen Tagen genoss sie es, den modischen Vorgaben des nächsten Jahrhunderts zu entkommen und auf ihre wilden Jahre zurückzublicken.
Die schrägen Blicke der Menschen, denen sie an solchen Tagen begegnete ließen, sie kalt, es war ihr ganz persönlicher Stil, drückte ihr Lebensgefühl aus. Sie war ihr Leben lang auf der Suche nach Freiheit von Geist und Körper, wollte sich keinen gesellschaftlichen Stempeln aufdrücken lassen. Es war erstaunlich wie schnell man sich den Trends und zeitgeistlichen Wünschen Dritter unterwarf, nur um nicht unliebsam aus dem Rahmen zu fallen. Angepasst an die Ansichten Anderer durchs Leben gehen war nicht ihre Vorstellung.
Aber es gab die Zeiten, in denen es ihr schwerfiel, aus dem vorgegebenen Trott auszubrechen, dann kleidete sie sich ganz nach Zeitgeist, passte sich den Wünschen ihres Umfeldes an und löschte ihre ureigenste Persönlichkeit für kurze Phasen aus. Zum Glück fand sie bisher immer wieder zu ihrem eigentlichen Ich zurück und fühlte sich dann auch wieder wohl in ihrer Haut. Nicht dass sie etwas gegen hübsche Kleider, hochhackige Schuhe oder einen gewissen Chic gehabt hätte, aber in ihrem privaten Bereich bevorzugte sie jede Form von Bequemlichkeit und legte nicht sehr viel Wert auf Eleganz. Sie zog ein handgeknüpftes, buntes Freundschaftsarmband jederzeit einem Diamantcollier vor. Es fiel die Angst um den Verlust des sündhaft teuren, kalten Gegenstandes weg und zeigte eine Lebenseinstellung, die ihr näher war als der Mammon scheffelnden Mehrheit der Menschheit.
Aus Sicht ihrer Freunde traf sie in dieser Hinsicht nur teilweise auf Verständnis. Während Helen und Tommy ihre Ansichten teilten und ebenso wie sie es nicht für wichtig hielten dem Bild zu entsprechen, das sich Andere von einem machen wollten, waren Sandra und Henry der Meinung, dass ein gesundes Maß an Anpassung sein musste, um in dieser Welt weiter zu kommen. Auch wenn sie bisher den Beweis dafür schuldig geblieben waren.
Wieder einmal wunderte sich Samantha darüber, dass die fünf Freunde zusammengefunden hatten, trotz ihrer völlig konträren Auffassungen vom Sinn und Zweck des Lebens.